Tharbad

Dúnadan - Duellant/Kämpfer
Das Licht des Kaminfeuers brach sich in dem kristallenen Trinkkelch, den Ciramir, Earendurs Sohn und Gesandter von Gondor, in seiner Hand drehte, und zauberte rote Lichterblitze an die Wändes des Raumes. Der wahrhaft meisterlich gefertigte Kelch stammte aus den berühmten Glasbläsereien von Fornost Erain in Arthedain, dem mit Cardolan rivaliserenden Land im Norden. Kelche wie dieser zierten die Tafel der Königin in Fornost, die Tische der Schiffsbauer von Mithlond und die schlichte Bank in König Ostohers Zelt in den Hügelgräberhöhen, wo die Cardolanische Armee in dieser Nacht kampierte, von weiteren Angriffen des furchtbaren Feindes aus Angmar bedroht.
Welch ein friedliches und harmloses Vergnügen das Tafeln mit fein gearbeitetem Eßgeschirr doch war. Es mutete schon sehr seltsam an, daß der König erlesene Speisen, Gedecke, spitzenbesetzte Leinenservietten und seinen eigenen Trinkkelch auf dem Feldzug nach Norden mitführte, wo er dem mörderischen Angriff des Hexenkönigs auf die Grenzen von Cardolan entgegentrat.
Die wenigen Botschaften, die das viele Kilometer im Süden gelegene Tharbad bislang erreicht hatten, berichteten von heftigen Kämpfen in den verwüsteten Landen von Bree, wo die Nordstraße die Große Oststraße kreuzte. Ciramir fragte sich wohl, ob den Nordleuten aus Cardolan und Arthedain, an den ständigen Krieg mit dem Hexenkönig oder untereinander gwöhnt, überhaupt bewußt war, welche Folgen Sieg oder Niederlage haben würden. Im Gegensatz zum Nachbarreich Rhudaur, das nur noch ein Marionettenstaat war, hatte sich bisher keines der beiden Länder Angmar unterworfen. Sobald das Dunkle Reich angriff, hatten sie stets ihre Zwistigkeiten begraben und waren der Gefahr gemeinsam entgegengetreten. War diese Bedrohung jedoch beseitigt, so flammte alsbald der alte Zwist zwischen den beiden nördlichen Königreichen von neuem auf, und wieder wurden die Schwerter wegen irgendeines nichtigen Fleckens Erde gekreuzt. Sogar während der Regierungszeit der jetzigen Könige, Ostoher von Cardolan und Arveleg von Arthedain, die beiden den Frieden suchten, waren Spannung und Zwietracht allgegenwärtig.
Ciramir war kein Narr. Er wußte von den schlangenzüngigen Heuchlern, die mit dem Mantel der Rechtschaffenheit verkleidet an den Höfen Arthedains und Cardolans herumschlichen, so wie sie zuvor den Palast in Rhudaur heimgesucht hatten. Ich denke, er wußte, wem sie dienten, und daß ihre Bemühungen den Hexenkönig immer mehr stärkten. Sie weilten sogar in Minas Anor, wo sie hofften, in Gondor Bruder gegen Bruder aufhetzen zu können.
Das helle Burgunder des Kelches färbte die Hand des Gesandten blutrot, während er gedankenverloren hineinstarrte. Ein kalter Luftzug bewegte die Vorhänge. Die Palastwache achtete genau auf den hohen Gast. Den Kelch noch immer in der Hand, stand Ciramir auf und ging zum Fenster, um es zu schließen. Er blickte über die weite Fläche der nächtlichen Lichter Tharbads und auf die breite gepflasterte Straße im Norden, die sich im schwachen Mondschein in die Ferne erstreckte. Irgendwo dort, hinter kaum auszumachenden schattenhaften Hügeln, erwarteten die Armeen von Cardolan und Arthedain den nächsten Ansturm der Heerscharen des Hexenkönigs.
Er mußte wohl den Reiter erblickt haben, der plötzlich auftauchte. Das fahle Licht der silbernen Mondsichel hatte wohl das Gerschirr des Pferdes und des Reiters Rüstung aufblitzen lassen. Verwunderung und Erstaunen müssen den Reiter bei seiner Ankunft entgegen gekommen sein.
Der Gesandte vergaß den Luftzug, der ihn hatte vermutlich frösteln lassen, und stellte den Kelch auf das Fenstersims. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich ganz auf diesen Reiter, der eilends dem Nordtor der Stadt zustrebte. Er war mit Sicherheit kein normaler Reisender, denn er passierte die Flüchtlingssiedlung auf der anderen Uferseite ohne anzuhalten. Das Stadttor wurde ihm sogleich geöffnet, und er trieb sein Reittier mit unverminderter Geschwindigkeit die Straße zum Königshaus entlang.
Kaum war er angekommen, entsprangen schon die wildesten Gerüchte. Während Ciramir noch am Fenster stand, überbrachte ihm ein Bediensteter die Nachricht, die sich unten in den Straßen schon wie ein Lauffeuer verbreitet haben mußte: Die Armee war geschlagen, der König und seine Söhne tot, und es hatten nicht einmal genug cardolanische Kämpfer überlebt, um sie zu begraben. Arthedainer und die Elben von Lindon hatten Ostoher in seine Gruft gesenkt. Der Hexenkönig war zwar besiegt, aber zu welchem Preis...
Tharbad, das schon von Menschen überquoll, würde bald unter einer Flut von Tausenden neuer Flüchtlinge leiden. Sollten auch nur Teile der angmarischen Heerscharen überlebt haben, so würden diese bald vor den Toren der Stadt stehen. Und falls nicht? Dann würde es dennoch Krieg geben. Arthedain würde verwsuchen, Cardolans schlimme Lage ausnutzen, das nun ohne König dastand und dessen Thronfolger Gerüchten zufolge nur ein 16 jähriges Mädchen war.
So wie es schien, wurde Ciramir kalt und er rieb sich überkreuzt seine Arme. Er hatte wohl einen Entschluß des Handelns gefaßt und holte seine Robe aus seinen Gemächern. Beim Verlassen streifte sie aber den Kelch. Einen Augenblick lang schwankte er auf der Kante des Simses, um schließlich auf dem Steinfußboden in tausend Stücke zu zerspringen. Stücke, die man nicht mehr erkennen, noch jemals wieder zusammenfügen könnte.
So sind die Ereignisse geschehen, so habe ich sie gehört, gelesen oder eigens erlebt.
Eine Zeit der Ungewißheit ist angebrochen ... aber noch diene ich der Krone und noch kann ich kämpfen ... und ich werde kämpfen!
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